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Alles könnte anders sein!

Mittwochsgedanken am 17. Juni 2020

In der Bibel, Apostelgeschichte des Lukas, 4. Kapitel (v. 32-35), wird Interessantes aus dem Leben der ersten Christengemeinde in Jerusalem erzählt:

Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.

Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.

Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.

Ausgewogene Gütergemeinschaft, ungetrübte Eintracht, nachhaltiger Lastenausgleich. Nein, so war die Kirche nie, oder nur ganz selten. So sind die Christen noch nie gewesen. Bis auf ein paar Klöster, Eremiten und Asketen vielleicht. Als Gemeinde „ein Herz und eine Seele“? Ein frommer Wunsch. Historisch nicht haltbar, das sieht man auf den ersten Blick. Schon ein Kapitel später erfährt man, wie es wirklich war. Da wird die Gemeinde von eigenen Leuten betrogen.

Warum dann diese ideale Szene? Warum gerade dieses Ideal und kein anderes, an dem sich die erste Christenheit orientiert? Warum soll das uns heute etwas sagen? - Weil auch das Ideal eine Wirkung erzeugt! Weil die Ideale, an denen man sich orientiert, auch Auskunft darüber geben, mit welchem Ernst und mit welcher Verantwortung eine Generation an die Aufgaben ihrer Zeit herangeht. Weil das Ideal Auskunft über uns geben kann: Wenn nicht schon darüber, wie die Kirche wirklich war, dann aber doch darüber, wie sie sind, die heute als Christinnen und Christen leben.

Wir waren nie so, wie es Lukas erzählt. Aber um so kräftiger fragen wir: Wann werden wir endlich wieder so, wie wir nie waren? Wir, die wir im ständigen Zuviel leben. Wann lernen wir von der Gütergemeinschaft endlich wieder das Abgeben? Und zwar nicht nur so, wie wir es schon können: Ausmisten, was uns zu viel ist, wegschmeißen, was überflüssig ist. Mit der bewährten Ratgeber-Methode, alles loszulassen, was keine Freude bereitet, ist aber noch keine Gütergemeinschaft zu machen. Die Gütergemeinschaft strebt nicht nach der Ordnung im Haus, sie ist kein Flohmarkt und kein Second-hand-Shop. Sie lehrt uns das Abgeben, das nicht nur zu unsern Gunsten ist. Wann treffen wir unsere Entscheidungen endlich wieder auf einer Basis von Leitlinien, die mehr sind als praktische Lebensoptimierung? Wann werden wir endlich wieder so gerecht, wie wir nie waren? Wann geht es uns endlich wieder darum, gemeinsam den Mangel zu beseitigen, statt allein unseren Überfluss?

Wann werden wir endlich wieder so, wie wir nie waren? Wann lernen wir wieder, das alle etwas zum Gemeinwohl einbringen können? Wann lernen wir endlich wieder, dass etwas zu geben, in die Gemeinschaft einzubringen, zur Würde jedes und jeder Einzelnen gehört?

Wann werden wir endlich wieder so, wie wir nie waren? Wahrscheinlich wohl nie. - Trotzdem brauchen wir gerade heute diesen Blick auf Veränderung.

In der gegenwärtigen Corona-Krise sehen wir wie unter einer unverhofften Versuchsanordnung: Wir können nicht einfach so weitermachen. Wir müssen was verändern. Unsere Art zu wirtschaften, zu wachsen, zu konsumieren, unser Leben im Immermehr und Vielzuviel geht an die Grenze der Belastbarkeit von Natur und Klima und stiehlt anderen die Lebensgrundlagen.

Doch „viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“ (Stefan Zweig). Doch es gibt sie, die kleinen Schritte und sie werden gegangen, gerade weil es große unerreichbare Ideale gibt.

Das neueste Buch des Berliner Philosophen, Vordenkers und Zukunftsarchitekten Harald Welzer hat den Titel „Alles könnte anders sein“. Welzer beschreibt in seiner „Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ (2019) u.a. Wege, wie der Gedanke der Gütergemeinschaft durch Allgemeinnutzen, neue Eigentumsformen (wie z.B. die Jenaer Bürgerenergie), öffentliche Bewirtschaftungen, genossenschaftliche Modelle gestärkt werden kann. Er denkt an ein Wirtschaften, das sich nicht am höchsten Gebot, sondern am höchsten Nutzen für das Gemeinwohl orientiert. Wir brauchen nicht nur eine verdienende, sondern eine dienende, Zukunft ermöglichende Wirtschaft. Dazu gehört, die real anfallenden Umwelt- und Sozialkosten in die Preise aufzunehmen, die bislang von der Schöpfung, von Menschen in den armen Ländern, vom Staat und der Allgemeinheit getragen werden. Mit Recht erinnern uns junge Menschen daran, dass sie in absehbarer Zeit unsere offenen Rechnungen bezahlen müssen, wenn wir jetzt nicht die wahren ökologischen und sozialen Kosten aufstellen - und alsbald begleichen.

Kleine Schritte zu einer anderen Form, mit unsern Gütern umzugehen. Ein Lokal in Wien lässt seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich das bezahlen, was die Gäste für richtig halten. Ein kleiner Schritt. Pay as you wish. Gib so, dass alle zufrieden sind, lautet die Devise. Es funktioniert und regt zum Nachdenken an.

Pfingsten war damals in Jerusalem eben passiert. Gottes Geist bewegte die Apostel. Sie waren mitten drin in der lebendigen Gemeinschaft mit Christus. Der hat das Leben nicht „wie einen Raub“ für sich behalten, sondern es „hingegeben“ (Philipper 2,6). Hingabe ist der Schlüssel. Wir kennen Hingabe in besonderen Momenten unseres Lebens. In diesen Momenten ist Teilen kein Verzicht mehr, sondern ein Glück.

Es würde uns selbst gut tun, wenn wir all das, was uns zu viel wird, einbringen könnten in unsere Gemeinde, in unser Gemeinwesen. Wenn wir Güter und Lasten, Schulden und Ideen nicht für uns behalten müssten, sondern teilen könnten. Dafür frei zu sein, hat uns Christus durch seine Hingabe die Tür geöffnet. „Lasst uns lieben!“, heißt es im 1. Johannesbrief (4,19), „denn er hat uns zuerst geliebt.“

Wann werden wir endlich wieder so, wie wir nie waren? Wir stellen diese Frage nicht naiv, sondern sehnsüchtig, beteiligt, engagiert, weil wir diese Frage brauchen: Für unsere eigenen kleinen und großen Befreiungen von allem, was uns zu viel wird, und für die Schritte zu einer dringend nötigen Gerechtigkeit, damit niemand Mangel leidet und alles, was lebt, genug hat.

Amen.

Gebet

Du Gott der Gerechtigkeit, höre!
Laut ist der Schrei nach Gerechtigkeit.
Wir rufen ihn in deine Ohren.
Wir rufen ihn in die Ohren der Mächtigen.
Höre, du Gott der Gerechtigkeit und sprich.
Höre und steh an der Seite der Bedrängten.
Höre und heile die Wunden der Geschlagenen.
 

Du Gott des Lebens, atme in uns!
Du hauchst deiner Schöpfung Leben ein.
Verzweifelt ringen die Gequälten nach Atem.
Sie ringen um Atem unter den Augen der Gewalttäter.
Sie ringen um Atem für ihre Kinder.
Atme mit ihnen, du Gott des Lebens.
Atme in den Schwachen und schütze ihr Leben.
Atme mit den Hoffenden und lehre sie.


Du Gott der Liebe, erhebe dich!
Die dir vertrauen, beugen ihre Knie,
damit du das Elend beendest.
Die dir vertrauen, hoffen auf dich.
In aller Welt warten die, die dir vertrauen.
Erhebe dich und zeige uns den Weg der Liebe.
Erhebe dich
und verwandele mit uns und durch uns diese Welt.
Du Gott der Liebe,
du Gott des Lebens,
du Gott der Gerechtigkeit.
Höre uns und atme in uns
durch Jesus Christus, unseren Bruder und Herrn.

Amen.

 

Sebastian Neuß
Superintendent
Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis Jena